Essen als Stilmittel

Montag, 09. November 2015
Foto: T. Schindel

Heute ist man nicht mehr, was man isst. Sondern man ist, was man nicht isst. Die Ernährung wird zum Stilmittel und zur persönlichen Ausdrucksform. Fakten, Daten, Hintergründe.

Hanni Rützler im Interview:

„Essen ist das neue Pop“, heißt es in Ihrem Food Report 2016. Was steckt hinter dieser These, die ja durchaus provokant formuliert ist?
Essen wird immer mehr zu einem Stilmittel, also einer Ausdrucksform der eigenen Persönlichkeit. Wir grenzen uns von anderen über die Art unserer Ernährung ab. Mit Mode, mit der Haarlänge oder mit musikalischen Vorlieben gelingt das heute kaum mehr. Über Ernährungsformen – denken Sie an vegan - lässt sich hingegen noch trefflich streiten. Dahinter steckt aber nicht nur eine Lust zur Provokation sondern auch das Bemühen, einen  je persönlich passenden Umgang mit dem Lebensmittelüberfluss zu finden. Man ist heute nicht mehr, was man isst. Sondern man ist, was man nicht isst.

Diese Identifikation über das Essen zeigt sich in den verschiedenen Food-Trends, die Sie beschreiben. Welcher ist für Sie aktuell der spannendste?
Besonders spannend finde ich die Entwicklung zum sogenannten „Infinite Food“, also dem Loslösen des Essens von angestammten Orten und Zeiten. Wir essen wo und wann es uns passt. Neben klassische Restaurants treten immer mehr Gastronomie-Angebote von Nonfood-Shops, die das Essen nutzen, um ihre Marke zu kommunizieren und die Verweildauer der Kunden zu erhöhen. Das ist ja im Grunde kein neues Konzept, aber es wird in der Esskultur heute so richtig spürbar, weil das Angebot differenzierter und meist auch qualitativ hochwertiger geworden ist.

Auch spirituelle – oder im Fall von vegan: moralisch getriebene – Ernährungsweisen werden heute zum Lifestyle. Warum?
Vegan ist aus meiner Sicht die Vertiefung einer sehr massiven Debatte, wie wir uns ernähren wollen. Der Hunger auf Fleisch ist bei uns seit Jahren gesättigt. Heute stellen wir uns die Frage, wie wir Tiere halten wollen oder woher das Futter kommt – mit wachsendem Wissen wird hier der Fleischverzehr für viele unappetitlich. Das steigende Interesse, vor allem nichtreligiöser Kunden, an koscheren und halalen Angeboten liegt vor allem an dem guten Ruf dieser Produkte, wenn es um die Lebensmittelsicherheit geht.

Was bedeuten die von Ihnen identifizierten Trends für den Handel?
Es ist vor allem wichtig, die aktuellen Entwicklungen zu kennen und dann zu schauen, was zum eigenen Konzept passt. Man kann nicht mit allen Trends arbeiten, sondern muss individuell entscheiden, was man kann und machen will – und was nicht. Esslösungen zu bieten ist sicher ein Thema, das immer wichtiger wird. Doch den Aspekt der Saisonalität in den Sortimenten können etwa kleinere Anbieter viel breiter spielen als die Großen, weil sie flexibler sind und nicht diese großen Mengen brauchen. Das ist dann ein guter Ansatz, um sich zu differenzieren.

Viele der von Ihnen genannten Beispiele sind im urbanen Raum angesiedelt. Sind die aktuellen Food Trends vor allem ein Stadt-Phänomen?
Städte waren und sind immer der Turbo für Trends. Hier mischen sich die Lebensstile, Ethnien, Berufsgruppen und Generationen in verdichteter Form. Und hier bilden sich zuerst genau diese Eliten, für die zum Beispiel das Auto und die Statussymbole der Elterngeneration nicht mehr diesen Wert besitzen und die stattdessen lieber mehr Geld in gutes Essen investieren. Die Städte entwickeln auch immer mehr ein eigenes kulinarisches Profil,  Eigenheiten und Stärken werden regional akzentuiert. Und das wirkt dann auch aufs Land zurück.

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In Österreich können biologische Lebensmittel trotz allgemeiner Teuerungen auf treue Verbraucher zählen.

Statements

Die Einschätzung von Nielsen und dem Gottlieb Duttweiler Institute zum Thema „Essen als Stilmittel“.

Anne-Kathrin Haubert, Senior Business Consultant Nielsen
„Etwa jeder dritte Deutsche verzichtet in diesem Sinne auf Gluten, Laktose oder tierische Produkte. Die meisten von ihnen verzichten aber nicht auf Grund von objektiven Erfordernissen, sondern freiwillig. Dahinter steckt die Reflexion des eigenen Essverhaltens in Bezug auf Gesundheit, Umwelt und Gesellschaft. Kulinarische Empfindlichkeiten schaffen soziale Identität, weil man sich von der breiten, „unreflektierten“ Masse abhebt.“

Bettina Höchli, Researcher GDI Gottlieb Duttweiler Institute
„Die Digitalisierung hat die Food-Branche erreicht und die Zahl der Angebote wächst rasant. Erfolgreich sind jene Unternehmen, die das Spannungsfeld zwischen Convenience und dem Wunsch nach natürlichem, gesundem Essen aufgreifen und es schaffen, die unterschiedlichen Interessen von Kunden zu vereinen. Durch ausgeklügelte Technik ist es heute möglich, frische Produkte oder exquisite Menüs in kürzester Zeit zum Kunden zu bringen.“

 

Info

Eine Leseprobe des neuen Food Reports von Hanni Rützler finden Sie auf www.zukunftsinstitut.de

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